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Das Ereignis. Geschichtsschreibung zwischen Vorfall und Befund

 

1. Unübersichtlichkeiten – eine Einführung

Und der Stand der ägyptologischen Historiographie

1.1. Geschichte(n)

Es herrscht eine gewisse Unübersichtlichkeit bezüglich dessen, was man sich unter ‚Geschichte’ vorzustellen habe. Das Problem ist, wie so oft, weniger praktischer Art – Geschichte wird fleißig geschrieben – denn eine rhetorisches (meist sagt man dann: theoretisches). Schuld scheinen die vielen Sparten kultur- oder strukturgeschichtlicher Narrative zu haben, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderst am Doppelthron der Ereignis- und der Sinngeschichte sägen.[1] Einerseits machen es Arbeiten zur Landschafts-, Sozial- und Wirtschafts-geschichte, zur Geschichte der Geschlechter, der Mentalitäten, der Jugend, des Alters, der Wissenschaft, der Begriffe, der Diskurse und schließlich die unendliche Zahl der „Kulturgeschichten des xyz“ schwer, einen zugrundeliegenden Begriff von Geschichte in all dem noch zu finden (ganz zu schweigen von Erdgeschichte u.ä.).[2] Auf der anderen Seite führt die postmoderne Entzauberung der Wissenschaft und die damit verbundene Neuver-zauberung der Welt dazu, das Konstrukt ‚Geschichte’ überhaupt in Frage zu stellen: es wird auf den Staus einer ‚Erzählung’ zurückgestuft.[3]

In der allgemeinen Geschichtswissenschaft hat es sich so weitgehend herumgesprochen, dass Geschichte nicht auf die ideologische Komponente und die Taten großer Männer reduziert werden kann. In der Ägyptologie durfte der dem Fach gelegentlich eigene Isolationismus aber noch im Jahr 2000 fröhliche Urzustände feiern, als in der Millenium Debate des 8. Internationalen Ägyptologenkongresses die Stellungnahmen führender Historiographen des alten Ägypten bezüglich diverser (gar nicht mehr so) neuer Ansätze wie „History from Below“, „Microhistory“ und Annales-Schule zwischen „ich will das alles gar nicht verstehen“ (D. B. Redford) und „die janze Richtung passt mir nich“ (N. Grimal) pendelte. Wobei diese Positionen längst nicht so repräsentativ sind, wie sie vorgeben: Der Beitrag von Dominique Valbelle auf derselben Tagung war bereits bedeutend behutsamer formuliert und die z.Z. aktuellste, von Ian Shaw herausgegebene „History of Ancient Egypt“ versucht sich programmatisch daran, eine Synthese des Wissenstandes sowohl zur Ereignisgeschichte, als auch deren strukturellen Grundlagen zu entwickeln, je nach Autor des Einzelbeitrages mit unterschiedlicher Gewichtung und Erfolg.[4]

1.2. Archäologie vs. Geschichtswissenschaft

Auf einer spezielleren Ebene ist in archäologischen Fächern das Verhältnis zur ‚Geschichte’ nicht ohne Spannung.[5] Archäologie wird gern als ein Fach gesehen, das „nur“ Vor-Geschichte betreibt, während die eigentliche Geschichtsforschung der Zunft der Historiker bleibt. Als Begründung wird die heterogene Quellenlage herangezogen: Geschichtswissenschaftler interpretieren vorrangig Schriftquellen und vergleichbare, gewissermaßen narrative Belege. Archäologen interpretieren Befunde nichtnarrativer Art. Verkürzt läuft diese Teilung darauf hinaus, dass Historiker Ereignisgeschichte betreiben, Archäologen Kulturgeschichte.

Wenigstens in der Archäologie der sog. Hochkulturen ist die Unterscheidung absurd. Schriftquellen zu „finden“ ist das tägliche Brot des Archäologen und die Entzifferung der jeweiligen Schriften emanzipierte überhaupt erst diverse archäologische Fachrichtungen (Ägyptologie, Assyrologie, Hethitologie etc.). Was dazu führte, dass diese Fächer im Kern oft Philologien sind, die sich mehr oder weniger mit Archäologie umgeben. Historiographie als Form der Quellenbearbeitung mit dem Ziel einer sinnvollen, narrativen Verbindung der Einzelbelege (diachron entlang einer Zeitachse oder synchron als zeitlich fixierter Schnitt) ist irgendwo in einer zwischen Philologie und Befundbeschreibung liegenden Grauzone ange-siedelt; echte Geschichtsschreibung findet – so ein gelegentlich zu hörender Seufzer – gar nicht statt.

Auch wenn D. B. Redford in Bezug auf die ägyptologische Geschichtsschreibung meint: „A text is worth a thousend pots“,[6] so lässt sich für die Ägyptologie eine Bewegung der historiographischen Forschung beobachten, die analog zur Entwicklung des Verhältnisses von philologischer und archäologischer Komponente des Faches verläuft. Die Rekonstruktion der Ereignisgeschichte dominierte die primär philologische Phase (z.B. Wiedemann 1884-88, Maspero 1895-99, Meyer 1884-1902, Breasted 1905) und wird mit den entsprechenden philologischen Methoden weitergeführt (z.B. Beckerath 1971, Kitchen 1986). Eine stärker kulturhistorische Ausrichtung ging mit der zunehmenden Bedeutung der Archäologie einher (z. B. Kemp 1989) und neuerdings setzt eine Tendenz posthistorischer Forschung ein (z.B. Morenz 1996, Popko 2006) die dialektisch zur Philologie zurückkehrt.[7] Exemplarisch kann diese Bewegung an der Bearbeitung des Phänomens der „Reichseinigung“ nachvollzogen werden. Auf der Basis der Manethoschen Überlieferung wurden zuerst von philologischer Seite Text- und Bildquellen in einen sinnvollen historischen Zusammenhang gebracht, mit einer extremen Variante bei Kurt Sethe (1930), der aus den Pyramidentexten eine ganze Vorgeschichte der eigentlichen Reichseinigung konstruierte. Seit Mitte des 20. Jh. bekamen archäologische Befunde ein immer größeres Gewicht bei der Beschreibung der Prozesse, die zur kulturellen Einheitlichkeit der Elitekultur im unteren Niltal führten, so dass an die Stelle des Paradigmas „Reichseinigung“ das der „Formierung der Hochkultur/Entstehung des Staates“ trat (z.B. Kaiser 1990). In jüngster Zeit hat die Diskussion der durch die Beschäftigung mit Schrift- und Zeichentheorie neue Impulse erfahren (z.B. Morenz  2004).[8] Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch für die Beschäftigung mit dem Phänomen der „Chronologie“ in der Ägyptologie beobachten: Zur an absoluten Datumsangaben fixierte Zuordnung von Befunden aus philologischer Perspektive, im günstigsten Fall durch Datierungen auf/in den Objekten selbst (Jahresangaben, Königsnamen, C-14-Daten usw.; siehe z.B. Beckerath 1997) ist seit W.M.F. Petrie (dargelegt 1901) die Befundvergesellschaftung als ein autonomes System einer relativen chronologischen Verortung hinzugetreten. Neuere Forschung ist bemüht, einerseits die verschiedenen Ansätze einer absoluten Fixierung zu harmonisieren (z.B. Bietak 2000) und andererseits die chronologische Eigenbewegung von Befundkorpora differenziert zu erfassen.[9]

1.3. Res gestae und historia – vom Wesen der Geschichtsschreibung

Wie in der Archäologie sich die „Verwissenschaftlichung“ des Faches (worunter eigentlich nur die Etablierung von universitären Berufsbildern zu sehen ist) in der Betonung der positivistischen Befunderhebung gegenüber der antiquarischen Sammlung und Generalisierung ausdrückte, so erlebte die Historiographie im geschichtspositivistischen Historismus ihre Promotion zur zweckfreien Wissenschaft an deutschen Universitäten.[10] Exemplarisch für die gesamte Schule steht Leopold von Rankes dictum, dass es nicht die Aufgabe seines Faches sei, der Geschichte eine teleologische Vision zu unterstellen, sondern zu ergründen, „wie es eigentlich gewesen“.[11] Dieser Forschungsansatz stellt die konkreten Ereignisse in den Mittelpunkt und greift gewissermaßen auf die alte Heldenerzählung zurück, in der Geschichte als die Folge von mit bestimmten Personen verbundenen Ereignissen (res gestae) konstituiert wird. Er ist von Eduard Meyer (und natürlich anderen) in die Orientalistik getragen worden und bildet seitdem das Rückgrat aller historischen Forschung in diesem Metier.

Daneben stehen – aber interessanter Weise in Deutschland erst viel später mit der Etablierung der Soziologie zu einem universitären Berufsbild destilliert – strukturalistische Ansätze der Geschichtswissenschaft. Auch sie beschäftigten sich mit der Frage, wie sich bestimmte Ereignisse zugetragen haben, sehen dies aber nicht in einer Folge von verketteten Taten begründet, sondern in Dispositionen natürlicher, gesellschaftlicher oder kultureller Art, die entsprechende Ereignisse notwendig oder möglich machen. Auch dieser Ansatz greift auf ein altes Erzählmuster zurück, das bestimmte Ereignishorizonte mit „Zeitaltern“ in Beziehung setzt, die entstehen und vergehen und in die der Mensch mit seinen Taten hoffnungslos verstrickt ist (historia). Aus der Perspektive dieses geschichtsphilosophisch angelegten Ansatzes sind die Ereignisse gewissermaßen Folgen der großen Dispositionen, in denen wahlweise Zyklen oder Zeitalter, der Weltgeist (Hegel) oder Konstrukte wie Kultur, Rasse, Religion wirken. Eine materialistische Fassung dieses Ansatzes wurde von Karl Marx und Friedrich Engels in dem Modell der Dialektik von sozialökonomischer Basis und kulturellem Überbau entwickelt. In der Soziologie wurde dieser Ansatz verfeinert, wobei die annales-Schule mit dem Modell der drei durées paradigmatisch für die Leistungsfähigkeit des Ansatzes in der Historiographie steht.

Es ist nahezu unnötig zu erwähnen, dass die positivistische Methode der Kern der ägyptologischen Historiographie war und ist. Aus der deutschen Romantik kommend – der ja auch die Philologie ihre Blüte verdankt – haben aber auch strukturalistische Ansätze bereits recht früh Einfluss auf die Geschichtsschreibung des pharaonischen Ägypten gehabt, allerdings primär in der idealistischen Form der Geistes- oder Sinngeschichte. Diese an geschichtsphilosophischen Fragestellungen der Zeit orientierte Methode suchte nach dem kulturellen Spezifikum und Movens der altägyptischen Gesellschaft, das seinen besonderen Platz in der Weltgeschichte bestimmen sollte, die implizit als Vorgeschichte des ‚Abendlandes’ konzipiert war (Breasted 1933), mit den unvermeidlichen völkischen Spielarten (Piper 1933). In den Werken von Erik Hornung und Jan Assmann hat diese Form der Strukturgeschichte eine aktuelle Neufassung gefunden.[12]

Strukturen jenseits des Geistes hatten es zuerst schwer, in der betont als Geisteswissenschaft posierenden Ägyptologie Fuß zu fassen. Zur Übernahme strukturalistischer Modelle in die archäologische Interpretation siehe Trigger (1989), der (1993) einen Entwurf liefert, Ägypten und andere frühe Hochkulturen auf der Basis materieller, sozialer und ideologischer Strukturen zu vergleichen. Im anglophonen Raum nimmt die Strukturgeschichte bei der Beschreibung der ägyptischen Kultur einigen Raum ein (z.B. Trigger et al. 1983), während sie in Frankreich – der Heimat der annales – geradezu erschreckend unterrepräsentiert ist. In der BRD werden strukturgeschichtliche Ansätze von u.a. Kaiser und Seidlmayer produktiv gemacht; marxistisch orientierter Strukturalismus spielt eine gewisse Rolle in den Arbeiten von Ägyptologen der ehemaligen sozialistischen Staaten (z.B. Berlev 1972, Endesfelder 1991).[13]

1.4. Die Große Erzählung

Historiographie, sei es die kausal verknüpfter oder die von Strukturen getriebener Ereignisse, ist getragen von dem Bemühen, einen Zusammenhang zwischen den herangezogenen Befunden herzustellen, der sinnvoll zum Gegenstand der Untersuchung führt. Auf diese Weise werden die Befunde zu einer Erzählung verknüpft. ‚Erzählungen’ ist eigen, dass sie auf ein möglichst hohes Maß auf Kohärenz und Logik – zumindest vor dem konkreten Hintergrund der jeweiligen Forscherbemühung – zielen. Das zeichnet auch jede Fehlinterpretation aus. Hayden White[14] hat dieses Element des Bemühens um eine sinnvolle historische Narrative und ihrer Gestaltung aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers analysiert und hierin einen wichtigen Nexus aller Ansätze zur Geschichtsschreibung erfasst. Das von ihm als Metahistory charakterisierte Phänomen einer vom Historiker verinnerlichten Vorstellung von der Sinnhaftigkeit der Verknüpfung seiner Forschungsergebnisse lässt sich problemlos auf den Archäologen und die von ihm getragene Kulturgeschichte übertragen. Das Bekenntnis, dass auch die wissenschaftliche Befunderhebung und –interpretation durch strukturelle Umstände bedingt sind, gehören mittlerweile zum guten Ton im postmodernen Diskurs. Diese Erkenntnis erleichtert nicht nur die Selbstreflexion und die Analyse von Werken der Fachkollegenschaft, sondern hat unmittelbare Folgen für die Analyse historischer Fakten selbst. Jede Ereignisnarrative ist determiniert, also auch die, die wir als historische Botschaft aus alten Schriften und Spuren gewinnen. Was Historiker und Archäologen an „Fakten“ erheben, sind Daten, die bereits vielfältig gebrochen sind; literarisch stilisiert in den Texten und durch Deponierungsvorgänge überformt bei allen Befunden.

Diese Relativierung der Pose gestrenger Wissenschaftlichkeit in der Geschichtsschreibung muss nun aber keineswegs in Skeptizismus enden. Der Vorgang der Befunderhebung und der Interpretation ist durch bestimmte Dispositionen determiniert, aber eben auch und vor allem durch den Befund selbst. Die Metahistory mag die Narrative bis zu einem weiten Punkt bestimmen, doch das Faktengerüst kann durch sie höchstens vergewaltigt, aber nicht umgestoßen werden; wie Eric Hobsbawm formuliert: Rom hat nun einmal Karthago erobert und nicht umgekehrt,[15] da kann man postkoloniale Geschichte schreiben, wie man will.

Zu den ideologischen Hintergründen von Interpretationsmustern in der Archäologie allgemein siehe Trigger (1989). Reford (1979) beschäftigt die Frage, wie dem Problem der bias in der ägyptologischen Historiographie beigekommen werden kann. In jüngerer Zeit gewinnt die Analyse des „Geschichtsbildes“ in pharaonischer Zeit selbst immer größeres Gewicht in der Forschung, beginnend etwa mit Hornung 1966, zuletzt Popko 2006. In der Archäologie gehört die Berücksichtigung der Umstände der Befundentstehung bereits lange zum hermeneutischen Werkzeug (Middle-range-theory und andere Methoden der Analyse von Überformungsvorgängen; siehe Bernbeck 1997).[16]

2. Problemstellung und Thesen

2.1. Warum? – Problemstellung

Die eben skizzierte methodologische Landschaft der Geschichtswissenschaft (vor allem) in der Ägyptologie ist vor allem die Projektion von Posen, die fallweise im innerwissenschaftlichen Diskurs eingenommen werden, und ist als solches höchstens idealtypisch. Wie die Dichotomie von Archäologie und Geschichtswissenschaft lässt sich auch das Gegensatzpaar von Historismus und Strukturgeschichte selten durchhalten. Eduard Meyer war im Prinzip soviel Strukturalist, wie er Positivist war.[17] Deshalb sollte man sich nicht zu lange bei der Diagnose von Bedingungen der Beschränkung aufhalten, sondern nach Möglichkeiten suchen, das Material für die Konstruktion historischer Narrativen nutzbar zu machen, die zeitgemäß-sinnvoll sind und dem Erkenntnisstand der Disziplin entsprechen.

Wenn auch für den Fortgang der ‚eigentlichen’ Forschungspraxis nur von untergeordneter Bedeutung, scheint es aber Klärungsbedarf hinsichtlich dessen zu geben, was „Geschichte“ und was „Geschichtsschreibung“ eigentlich ist. Nicht nur, um dem Selbstverständnis dessen eine konzeptuelle Grundlage zu geben, was man in der (ägyptologischen) Geschichtsschreibung eigentlich tut, sondern auch, um aus den verschiedenen methodischen Zugängen, die der historiographische Markt z.Z. anbietet, möglichst effektive Werkzeuge und gewinnbringende Anregungen für die (ägyptologische) Geschichtsschreibung zu gewinnen.

Um diesen Prozess der Klärung eine Basis sowohl der Begriffs- und Methodendiskussion als auch bei der Auswahl von Fallstudien zu geben, schlage ich vor, einen Terminus in den Mittelpunkt eines inter-, trans- oder postdisziplinären (ganz nach Belieben) workshops zu stellen, der mir in diesem Zusammenhang besonders potent erscheint; weil er alt genug ist, um als eine Kategorie der Historiographie allgemeine Anerkennung zu beanspruchen, und ambivalent genug, um Diskussionen hervorzurufen: das Ereignis. Allerdings sollen Ereignisse nicht als isolierte Erscheinungen aufgefasst werden, sondern das Ziel ist es, den Zusammenhang zu untersuchen, der zwischen Ereignissen, die wir aus heterogenen Quellen rekonstruieren, und den Strukturen besteht, in die diese eingebettet sind. Der Begriff der Struktur soll daher den zweiten Pol charakterisieren, um den sich die Diskussion drehen soll.

2.2. Was? –  Begriffsbestimmung

2.2.1. Was ist ein Ereignis?

Als „Ereignis“ wird gemeinhin ein einmaliger Vorgang wahrgenommen. Darunter können in der Perspektive der klassischen Ereignisgeschichte Handlungen (endogene Ereignisse) verstanden werden, die direkt mit menschlichen Aktionen zusammenhängen: Kriegszüge, Herrscherwechsel, Erfindungen, Ratsbeschlüsse usw.; aber auch Geschehnisse (exogene Ereignisse), die von den betroffenen Individuen kaum oder nicht beeinflusst werden können: Naturkatastrophen, Epidemien, auch Kriege und politische Entscheidungen usw. Dabei kann es sich durchaus ergeben, dass die Ereignisnarrative geteilt werden muss: aus der Perspektive einiger Individuen kann ein Ereignis den Charakter einer Handlung haben, aus der von anderen ein Geschehen sein, dem sie unmittelbar oder mittelbar ausgesetzt sind, z.B. im Fall einer Eroberung. Es hat wenig mit political correctness zu tun, wenn man die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte der Kategorie ‚Ereignis’ berücksichtigt.

Setzt diese Charakterisierung des Ereignisses als Vorgang noch am Horizont der Erfahrung durch konkrete Individuen an, so muss ‚Ereignis’ aber aus der Perspektive des Archäologen (und m.E. des Historiographen überhaupt) anders gefasst werden. Praktisch ist es ja so, dass nur selten der Historiker dem von ihm behandelten ‚Ereignis’ beiwohnt (zu den auch dann stattfindenden Brechungen siehe gleich), sondern aus einer Anzahl von Quellen das Ereignis rekonstruiert. ‚Ereignis’ ist dann eine hermeneutische Kategorie, die ganz generell den Entstehungsmoment eines wie auch immer gearteten Befundes beschreibt. In der traditionellen Historiographie sind diese Befunde vor allem Texte (und Bilder), in weiterem Sinne aber auch Mythen, Erzählungen und schließlich Artefakte, Bodenbefunde usw. Das ‚Ereignis’, so gesehen, ist die Deutung einer Reihe von Befunden, die sich wiederum aus der Rekonstruktion ihrer Entstehungsbedingungen ergibt. Hier trifft sich die Begriffsbestimmung mit der bourdieuschen Praxistheorie, der fordert, vom opus operatum (hier: ‚Befund’) zum modus operandi (hier: ‚Ereignis’) vorzustoßen.[18]

Schließlich hat auch die archäologische Befunderhebung „Ereignischarakter“, denn jeder Befund wird nicht zuletzt durch die Bedingungen seiner Entdeckung (u.a. den Dispositionen des Entdeckers) bestimmt. Hier trifft der Archäologe auch den Zeithistoriker wieder: alle stehen dem Befund zwar unmittelbar gegenüber, prägen ihn aber durch ihre Rezeption bereits mit. Dass es unnötig ist, an dieser Stelle in erkenntnistheoretischen Pessimismus zu verfallen, wurde bereits erwähnt: die Rezeption ist – trotz aller, wie es englisch so schön heißt: bias – nicht zuletzt durch den Befund geprägt und die Würze der historiographischen Beschreibung liegt genau im Schnittpunkt von positivistischer Befunderhebung und individueller Deutung.

Letztendlich bleibt zu postulieren, dass im Prinzip die Vergangenheit selbst wie auch der Akt ihrer historiographischen (Re-)Konstruktion aus nichts denn unendlich vielen Ereignissen und ihren Resultaten besteht. Wenn Historiker aus bestimmten Befunden verallgemeinern, wählen sie aus der unendlichen Menge der Vorfälle (und doch nur aus der äußerst begrenzten Menge der vorhandenen Quellen) sozusagen eine Anzahl von „Ereignissen“ aus, die ihrer Ansicht nach eine sinnvolle Charakterisierung des behandelten Phänomens möglich machen. Es nimmt daher nicht wunder, wenn jede Geschichtsschreibung im Kern Ereignisgeschichte ist. Selbst dann, wenn sich bewusst der Ereignisnarrative verschlossen wird und Autoren ausschließlich kulturelle Vergesellschaftungen präsentieren, beruhen die so konstruierten Erkenntnisse auf der Synthese von Ereignissen der verschiedensten Art.

2.2.2. Was ist eine Struktur?

Der eben formulierte Ansatz ist extrem positivistisch gehalten und läuft darauf hinaus, dass sich jedes Phänomen aus der Kausalität von unendlich vielen Ereignissen ergibt; wie im „butterfly effect“ der Flügelschlag eines Schmetterlings in China mit einem Sturm über Europa in Verbindung gebracht werden kann. Um der damit drohenden hermeneutischen Entropie zu entkommen, kann der Forscher bestimmte „Ereignisblöcke“ zusammenfassen und zu Strukturen verallgemeinern, die dann in kausalen Zusammenhang mit dem behandelten Phänomen gesetzt werden. So wäre es sehr mühselig, jeden Text als individuelle Transformation von unendlich vielen Sprechakten in unzählig vielen Kommunikationssituationen zu deuten; viel einfacher ist es, die Struktur einer bestimmten „Sprache“ anzunehmen, in der dieser Text geschrieben wurde. Um die Bewässerung im pharaonischen Ägypten zu beschreiben, muss nicht die Erdgeschichte jedes Sandkorns geschrieben werden, sondern es genügt ein longue durée der Landschaftsform und des Klimas zu skizzieren. Um einen Bestattungsvorgang im Alten Reich zu untersuchen, muss nicht das funeräre Gedankengut pharaonischer Zeit in extenso rekonstruiert werden, sondern es kann zumindest in einigen Kernpunkten von einem medium durée funerärer Vorstellungen der pharaonischen Gesellschaft ausgegangen werden.

Strukturalismus ist so die Überlebensform jeder Kommunikation, ganz besonders in der historischen Forschung (man kann hier auch die Systemtheorie und ihre Lehre von der „Kontingenzreduzierung“ zur Erklärung heranziehen). Was aber nicht vergessen werden sollte, und wenn, sofort zu idealistischen Theorien führt, ist, dass die ‚Struktur’ nicht losgelöst von den unendlich vielen ‚Ereignissen’ existiert und kein Eigenleben jenseits der Ereignisse führt. Gefahr droht, wenn sich Strukturgeschichte in „Sinngeschichte“ verwandelt und den Strukturen eine metaphysische Bewegung jenseits ihrer permanenten Neuschöpfung durch singuläre Akte (Ereignisse) zuschreibt.

2.2.3. Was ist eine Erzählung?

Eine gelungene Interpretation von Befunden liegt letztendlich darin, in befriedigender Weise dem Charakter des Befundes als Resultat eines Ereignisses gerecht zu werden und dabei die zu ihm führenden Kausalitäten in sinnvoller und nachvollziehbarer Weise zu strukturieren. Das ist die historische Erzählung. Ihr Inhalt wird sich daraus ergeben, welche Fakten (also mit Ereignissen zu verknüpfende Befunde) zur Verfügung stehen und welche Intentionen der Forscher (oder Sänger) verfolgt.

Damit steht und fällt jede historische Erzählung mit dem ihr zur Verfügung stehenden Faktenmaterial – was nicht anders zu erwarten war. Man sollte nun aber Faktenmaterial nicht mit Schriftquelle gleichsetzen. Ereignisse vollziehen sich auch jenseits der schriftlichen Fixierung und eine Geschichtsschreibung, die sich programmatisch darauf beschränkt, ausschließlich oder primär Schriftquellen auszuwerten, kupiert sich selbst, erst recht, wenn die Kategorie ‚Ereignis’ noch auf res gestae eingeengt wird. In postmoderner Abgeklärtheit posierende Tafeln wie etwa: „Am 13. März 1712 geschah an diesem Ort nichts Bedeutendes“ erinnern an die großen Lücken, die in der Ereignisgeschichtsschreibung zwangsläufig auftreten, wenn die Kategorie ‚Ereignis’ auf Krieg, Pest und die Geburt Großer Männer beschränkt wird. D.h., auf entsprechenden Tafeln bezeichnen diese Lücken die glücklichen Zeiten – natürlich nur aus der postheroischen Perspektive (so viel post- war selten...).[19]

Eine sich hieraus ergebende Frage ist die, was ein Ereignis in der Geschichte überhaupt zu einem Ereignis macht. Es ist ja nicht so, dass jeder Vorfall als Ereignis angesehen wird. Es ist sogar eher so, dass Zeitgenossen die Vorfälle, die in der historischen Projektion die ‚Geschichte’ ausmachen, häufig gar nicht als solche entscheidenden Ereignisse wahrnehmen. Wie es so schön heißt: Sie erleben Geschichte als Gegenwart. Andererseits wird „der Hauch der Geschichte“ durchaus auch erlebt oder „historische Ereignisse“ werden inszeniert. Die ganze Ereignisnarrative pharaonischer Zeit ist im Prinzip nichts anderes als die Dokumentation solcher Inszenierungen (Königsnovelle, Annalen). Ob in der Historiographie diese Vorfälle und Inszenierungen dann als das gesehen werden, was die Auktoren damit bezweckten, ist wieder etwas anderes.

Die Interpretation der Fakten steht damit bereits im Kern einer Darstellung, die sich als positivistische Ereignisgeschichte vordergründig vor allem dem Faktischen stellen will. Aus der Perspektive der Historiographie ist das ‚Ereignis’ immer eine sekundäre, eine interpretative Kategorie der Geschichtsbeschreibung/konstruktion. Der Historiker – sei er der zeitgenössische Hofhistoriker oder der Universitätsprofessor – schafft das Ereignis gewissermaßen, indem er es aus der Vielzahl der Vorfälle heraushebt, während sich die Wolke all dieser Vorfälle zu dem verdichtet, was als Struktur dieses einzelne Ereignis ermöglicht und bedingt.

Ein Zugang zur Geschichtsschreibung ist es also, aus der unendlichen Anzahl der Vorfälle Ereignisse herauszuheben. Das ist das Paradigma der Ereignisgeschichte. Dem steht das Paradigma der Strukturgeschichte gegenüber, das sich zur Aufgabe stellt, die Bedingungen menschlichen Lebens allgemein zu charakterisieren. Indem es aber Strukturen als ‚Bedingungen’ beschreibt, weist es ihnen Wirkungen zu und macht sie so ebenfalls zu ‚Ereignissen’. Der Historiograph betreibt Strukturgeschichte, indem er die amorphe Menge der Vorfälle als ereignishafte Strukturen beschreibt. Was schließlich sogar erlaubt, aus der Strukturgeschichte heraus auf Ereignisse zu schließen, die nicht konkret erfasst werden können, aber deren ungefährer Verlauf beschrieben werden kann. In der Beschreibung solcher ‚strukturellen Ereignisse’ liegt wohl eine große Potenz archäologischer Geschichtsschreibung jenseits der reinen Schriftquellenforschung.

2.2.4. Was könnte archäologische Geschichtsschreibung sein?

Auf das Spannungsverhältnis, das zwischen Archäologie und Geschichtswissenschaft besteht, wurde bereits hingewiesen. Auch darauf, dass dieser eher terminologische Streit keine der beiden Seiten am Erzählen / Schreiben diverser ‚Geschichten’ hindert. Als Lösung dieses Phänomens soll hier das Paradigma der eben erwähnten „archäologischen Geschichtsschreibung“ vorgeschlagen werden.

Denn ein Problem der Definition von ‚Geschichte’ liegt m.E. darin, dass zu oft bereits a priori von der Vorstellung ausgegangen wird, dass es so etwas wie eine methaphysische Substanz ‚Geschichte’ überhaupt gibt. Gegenüber diesem letztendlich immer idealistischen Ansatz geht das archäologische Paradigma von dem aus, was sich an der Vergangenheit beobachten lässt: am Befund. Wie auch immer interpretiert, der Befund bleibt die empirische Basis jeder historischen Erzählung. Befunderhebung – einschließlich der kritischen Diskussion usw. – ist Archäologie. Der Akt der Verknüpfung mit Anderem sowie die Sinn- bzw. Funktionszuweisung, mögen wir sie Erzählung, Interpretation, Diagnose, Dichtung oder wie auch immer nennen, ist Historiographie. Wenn wir den Befund als ein Ereignis erzählen, dann schreiben wir Geschichte.  Noch einmal praxistheoretisch formuliert: der modus operandi, der sich im ‚Ereignis’ des Hervortretens manifestiert, ist die ‚Geschichte’ jedes Phänomens, jedes opus operatum.

3. Wie? – Fallstudien

Nach so viel Wortakrobatik ist es sicher sinnvoll, das Gesagte durch die Skizzierung von Anwendungsfeldern – sprich: möglichen Fallstudien – etwas zu konkretisieren.

3.1. Ereignisdefinitionen – einst und jetzt

Das Wesen der Historiographie liegt m.E. in der Ereignisnarrative. ‚Ereignisse’ in der Gestaltung der Erde schreiben Erdgeschichte; ‚Ereignisse’ in der Konzeptualisierung von Natur und Gesellschaft schreiben Geistes- oder Sinngeschichte; ‚Ereignisse’ in der Konstitution von Sozialbeziehungen, Wirtschaftsformen etc. schreiben Strukturgeschichten der verschiedensten Art, ‚Ereignisse’ auf der Ebene gesellschaftlich relevanter Handlungen schreiben politische Geschichte usw., usf. Es ist nun für die historische Forschung von Interesse, welche Vorfälle im Rahmen der jeweiligen Narrative in den Status des ‚Ereignisses’ gehoben werden, und warum. Das betrifft die Untersuchung der antiken Historiographie ebenso wie die Rezeption neuzeitlicher Ansätze.

- Stichworte: Formen der historischen und der rezenten Historiographie

3.2. Die strukturelle Bedingtheit von Ereignissen

Ereignisse können sich nicht beliebig zutragen; sie sind immer strukturell determiniert. Strukturelle Voraussetzungen – die durées der annales-Schule – prägen den Handlungsrahmen der Menschen und das Spektrum der Vorfälle, die sich in einer bestimmten Region zu einem bestimmten Zeitpunkt zutragen können. Solche Bedingungen zu formulieren stellt einen Ausgangspunkt jeder historischen Forschung dar. Die Definition struktureller Bedingungen für konkrete historische Phänomene stellt die Grundlage für die Beantwortung von Fragen dar wie: Warum kann etwas passieren? aber auch: Warum kann etwas nicht passieren? Strukturen setzen einen Rahmen von Möglichkeiten, in dem sich die tatsächlichen Ereignisse zutragen. Das wird auch von hartgesottenen Ereignisgeschichtlern kaum bestritten. Interessant ist, über die Bestimmung dieses Feldes an Möglichkeiten hinaus zu fragen, welche Umstände letztendlich zu den eingetretenen Ereignissen führten, und warum bestimmte Ereignisse nicht eintraten. Dabei eröffnet sich die Möglichkeit zur Untersuchung historischer Optionen, wie sie neuerdings von Vertretern der alternative history diskutiert werden. Strukturgeschichte wird dann zu einem unverzichtbaren Teil der Ereignisnarrative, wenn sie nicht nur die Bedingungen der eingetretenen ‚Ereignisse’ definieren, sondern auch als Feld von Optionen wahrgenommen werden.

- Stichwort: strukturgeschichtliche Ansätze; die Einbettung bestimmter Ereignisse und ihre Determiniertheit

3.3. Strukturelle Folgen von Ereignissen

In der Begriffsdiskussion wurde bereits thematisiert, dass Strukturen nicht autonom von Ereignissen existieren. Daraus ergibt sich die interessante Dialektik, dass sich einerseits die jeweiligen Ereignisse nicht ohne bestimmte strukturelle Voraussetzungen zutragen können, andererseits genau die sich konkret zutragenden Ereignisse Strukturen schaffen, die dann wieder weitere Ereignisse determiniert usw. D.h., genau die Ereignisse aus dem Feld struktureller Optionen, die dann tatsächlich eingetreten sind, formen die Strukturen immer wieder neu. Aus der Perspektive der Ereignisnarrative ergibt sich damit die Fragestellung, welche strukturellen Folgen bestimmte Vorfälle haben, die, z.B. im Fall politischer Handlungen, der Intention der Akteure entsprechen, aber eben durchaus diesen auch genau widersprechen können. Denn in der Betrachtung der Dialektik von beabsichtigten und tatsächlich eingetretenen Folgen bestimmter Ereignisse zeigt sich die unbedingte Einbettung jeder Handlung bzw. jedes Ereignisses in strukturelle Gegebenheiten; siehe das bekannte Phänomens des „Scheiterns“ diverser Agenten in/an der Geschichte. Aber so wenig Agenten den Bedingungen ihres Handelns entkommen können, so wenig wird der Gang der Geschichte unilinear strukturell determiniert. Der „gesetzmäßige“ Verlauf der Geschichte ist eine teleologische Fiktion deshalb, weil die solche Gesetzmäßigkeiten erzeugenden Strukturen auf der Ebene des Ereignisses erst erzeugt werden – und Ereignisse können da einiges durcheinanderbringen am steten Lauf der Strukturen; sei es ein Meteoriteneinschlag, der die Dinosaurier in ihrer Entwicklung hemmte, der Untergang von Atlantis oder die Aufstellung einer ziemlich starken Streitmacht irgendwo in Spanien für Altamerika. Man nähert sich so dem Problem der Unvorhersehbarkeit von Geschichte.

- Stichworte: strukturelle Brüche der Geschichte und ihre Verbindung mit Ereignissen (Krieg, Krankheit, Naturkatastrophe, Erfindung, Auftreten ‚großer’ Männer und Frauen etc.)

3.4. Strukturelle Ereignisse

Es ist mehrfach angeklungen, dass die idealtypisch konstruierten ‚Strukturen’ voll von ‚Ereignissen’ sind. Schon aus diesem Umstand heraus können Befunde, die sich im Sinne struktureller Zustände oder Bedingungen interpretieren lassen, auch auf einen Horizont von Ereignissen verweisen, ohne dass diese Ereignisse im einzelnen konkretisiert werden können. Bei unvorhereingenommener Prüfung der Faktenlage wird der Historiker des Altertums sogar zu dem Schluss kommen, dass nur ein Bruchteil der von ihm zu schreibenden Geschichte mit konkreter Ereignisnarrative zu bestücken sein wird; immer deutlicher, je mehr er sich den sogenannten „vorgeschichtlichen“ Zeiten zuwendet. Dennoch ist es möglich, aus der Bewegung der Strukturen auf das dahinterliegende movens zu schließen: auf Vorfälle, die sich im Ergebnis zu einem (oder vielen) strukturellen Ereignissen verdichten. Aus strukturgeschichtlicher Sicht liegt sogar in dieser Unzahl anonymer Vorfälle der eigentliche Charakter der Geschichte, deren Erzählung höchstens aus mnemotechnischen Gründen mit konkreten Ereignissen garniert werden muss. Will man weniger puristisch sein, kann man sich dem Ereignischarakter strukturell bedeutender Vorfälle durchaus nähern, indem man Zeiten und Räume struktureller Veränderungen eingrenzt, eventuell soziale Handlungsebenen definiert usw. Schließlich ist es so möglich, Einzelbefunden, die ganz ohne Textquellen o.ä. auf uns kommen, in einen allgemeinen, strukturellen Ereignishorizont einzuordnen und so dem Bedürfnis gerecht zu werden, auch sie durch eine sinnvolle Narrative zu erschließen. Davon lebt das Paradoxon des Erzählens einer Vor-Geschichte.

Man kann sich auf diesem Weg auch geschichtsphilosophischen Konstrukten wie dem der „Achsenzeit“ (Jaspers 1949)[20] oder Überhaupt der historischen Ontologie nähern, und doch deren idealistischen Ballast vermeiden. Veränderungen in den großen Blöcken der Zeitalter der historia sind keine willkürlichen Akte des Weltgeistes, auch wenn die eintretenden Ereignisse oft nicht wie die Verursacher der Veränderung erscheinen, sondern als deren Folgen; als Folgen einer Umwertung, die scheinbar tiefer liegende Strukturen betraf. Doch diese tiefen Strukturen sind nicht von einem Geist oder einem Sinn beseelt – sie sind die Summe der kleinen und kleinsten Vorfälle, hin zu einem strukturellen Ereignis.[21] Wenn diese kleinen und kleinsten Vorfälle solche Folgen haben können, dann lohnt es dem Historiographen wohl, sich auch ihnen zuzuwenden – ohne die ‚großen’ Ereignisse dabei zu vergessen, die sie auslösen.